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Liebevolle Grenzen – Warum wir unseren Kindern Orientierung schulden

    Teil II der Reihe: HAPPY HEALTHY FAMILY

    In unserem letzten Artikel (nachzulesen hier) haben wir einen Blick auf die Ursprünge bedürfnisorientierter Erziehungsmodelle geworfen und festgestellt, dass diese oftmals missverstanden werden. Im Zusammenhang damit begegnet uns häufig eine Form der Grenzenlosigkeit, mit der viele Kinder heutzutage aufwachsen. Der Gedanke dahinter ist klar: Wir sind bestrebt, unser Kind nicht in seiner freien Entwicklung einzuschränken, weshalb wir Restriktionen und Frustrationen möglichst vermeiden. Eltern verfolgen diesen Ansatz stets mit besten Absichten und verausgaben sich bei dem Bemühen, ihrem Kind ein schönes Leben zu ermöglichen, manchmal bis an den Rand des Burnouts. Dennoch führt diese gut gemeinte Praxis in den wenigsten Fällen zum gewünschten Ergebnis. Warum Kinder und auch Eltern stattdessen von klaren Grenzen profitieren, wollen wir uns im Folgenden näher ansehen.

    Grenzenlos glücklich?

    Das Wort „grenzenlos“ mag im ersten Moment durchaus positiv klingen. Es bedeutet, viele Möglichkeiten zu haben, sich entfalten zu können und frei zu sein. Das haben auch die meisten Eltern im Sinn, wenn sie auf Grenzen in der Erziehung bewusst verzichten. Doch es gibt auch eine Kehrseite: Keine Grenzen zu haben bedeutet, sich an nichts orientieren zu können. Alles verschwimmt und fließt ineinander, was die Gefahr birgt, sich recht bald verloren zu fühlen.

    Dieses diffuse Gefühl stellt sich auch bei Kindern ein, die weitgehend ohne Grenzen erzogen werden. Ihnen fehlt der Bezugsrahmen in ihrem Heranwachsen, es fehlen die Orientierungspunkte in ihrer Entwicklung. In ihnen entsteht die – meist unbewusste – Schlussfolgerung: „Wenn es meinen Eltern egal ist, wie ich mich verhalte, muss das bedeuten, dass ich ihnen egal bin.“ Um diesen Trugschluss zu vermeiden, ist es von großer Bedeutung, dem Kind nicht nur positives Feedback zu geben. Wir dürfen und sollten ihm auch zurückzumelden, wenn wir mit etwas nicht einverstanden sind.

    Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile

    Wenn wir ein solches Feedback geben, spielt die Unterscheidung zwischen dem Kind als Person und seinem Verhalten eine wesentliche Rolle. Eine wertschätzende Grundhaltung und bedingungslose Liebe dem Kind als Person gegenüber schließt nicht aus, dass wir manchmal mit seinem Verhalten nicht einverstanden sind. Im Gegenteil: Diese liebevolle Grundhaltung ermöglicht es uns, eine klare und dennoch wertschätzende Botschaft zu senden.

    So können wir einem wütend um sich schlagenden und spuckenden Kind vermitteln: „Wir lieben dich so, wie du bist. Auch Wut, Ärger, Traurigkeit usw. gehören zum Leben und sind völlig in Ordnung. Allerdings möchten wir nicht, dass du uns schlägst/anspuckst/kratzt/beißt. Wir werden dieses Verhalten nicht akzeptieren.“ Eine solche Botschaft beeinträchtigt das Kind nicht in seiner Integrität. Es erfährt keine Ablehnung als Person oder hat das Gefühl, dass Zuwendung und Liebe an gewisse Bedingungen geknüpft sind. Stattdessen erhält es eine Rückmeldung darüber, dass andere Menschen persönliche Grenzen haben, deren Überschreitung Konsequenzen nach sich zieht bzw. nicht akzeptiert wird. Außerdem lernt das Kind dabei, Gefühle zu erkennen, sie zu benennen und konstruktive Möglichkeiten des Umgang damit zu erproben.

    Nein aus Liebe

    Im Zentrum einer solchen Botschaft steht also die bewusste Trennung von Kind und kindlichem Verhalten. Das ermöglicht Liebe, Wertschätzung und Respekt für ein Wesen in seiner Ganzheit, ohne, dass diese an Bedingungen geknüpft sind. Das widerspricht nicht einem klaren Setzen von Grenzen auf der Verhaltensebene, sondern kann sich sogar genau darin zeigen. Eben weil das Kind es uns wert ist! Viele Eltern leben die Grundhaltung der bedingungslosen Liebe. Sie schrecken jedoch davor zurück, dem Kind Feedback für sein Verhalten und dessen Konsequenzen zu geben.

    Kindliches Verhalten ist dabei stets als eine Form der Kommunikation zu verstehen. Es ist unsere Aufgabe als Eltern, unserem Kind Alternativen zur Verfügung zu stellen, wenn wir einen inadäquaten Kommunikationsstil (wie z.B. kratzen, spucken, schlagen,…) bemerken. Verabsäumen wir das, tun wir unserem Kind nichts Gutes. Denn spätestens im Kontakt mit anderen Menschen wird dieser inadäquate Kommunikationsstil für Irritation und Widerstand sorgen. (So wird der kleine Lukas also nicht lange zögern, seiner Spielgefährtin Sarah einen Eimer an den Kopf zu donnern, wenn sie ihn im Sandkasten in den Finger beißt.)

    No rules, no frustrations?

    Moderne Erziehungsmodelle orientieren sich – in bester Absicht – häufig an den Wünschen des Kindes. So wird diesen meist nachgegeben, anstatt die Bedürfnisse aller Beteiligten zu beachten und auszubalancieren. Manche Eltern setzen im Sinne der Vermeidung von Frustrationen sogar auf die weitgehende Vermeidung des Wortes „Nein“. Die Folgen dessen: Kinder, die Zeit ihres Lebens von Frustrationen ferngehalten werden, haben keine Gelegenheit, konstruktive Bewältigungsstrategien für derartige Situationen zu entwickeln.

    Das mag so lange gut gehen, wie sie von ihren Bezugspersonen „behütet“ werden. Doch spätestens, wenn Kinder mit anderen Menschen in Kontakt kommen, sind Frustrationen unvermeidlich. (Wir erinnern uns an dieser Stelle an Lukas und Sarah im Sandkasten…) Das ist der Moment, in dem sich meist erste Auffälligkeiten zeigen: Kinder reagieren mit unkontrollierter Wut, wenn etwas nicht nach ihren Vorstellungen funktioniert, sind schnell zutiefst verzweifelt, ziehen sich zurück oder reagieren mit körperlichen Beschwerden wie Übelkeit, Bauchschmerzen, nächtlichem Einnässen etc. auf die Einschränkungen im Außen. Hilflosigkeit und ein hoher Leidensdruck sind die Folge.

    Wie ein Fisch im Wasser

    Stellen wir uns an dieser Stelle vor, wir haben als Kind nie das Schwimmen gelernt. Viele Jahre später passiert es uns, dass wir ganz überraschend ins Wasser fallen. Das wird uns nicht nur einen großen Schreck einjagen, es wird uns auch sehr viel Kraft kosten, mit der Situation umzugehen. Auch als Kind, das nicht schwimmen gelernt hat, ergeht es uns ähnlich.

    Begleiten uns hingegen unsere Eltern, unterstützen uns und bringen uns Schritt für Schritt das Schwimmen bei, erlernen wir verschiedene Varianten, uns im Wasser zu bewegen oder auch an Land zu gelangen. Das mag an Anfang noch schwierig sein und uns wie eine unüberwindbare Herausforderung erscheinen. Doch schon wenig später bewegen wir uns bereits wie Fische im Wasser. Unsere Eltern sind dabei als Sicherheitsnetz stets im Hintergrund verfügbar.

    Kindern, die nicht gelernt haben mit Frustrationen umzugehen, geht es wie Erwachsenen, die ins Wasser fallen, ohne schwimmen gelernt zu haben. Sie hatten keine Gelegenheit, sich das notwendige Handwerkszeug zuzulegen, um derartigen Situationen im Leben konstruktiv zu begegnen.

    Umgehen statt Umgehen

    Wir tun unserem Kind also nichts Gutes damit, ihm stets alle Wünsche zu erfüllen. Wir ersparen ihm auch nichts, indem wir keine Grenzen ziehen. Letztlich sind wir unserem Kind diese Grenzen sogar schuldig. Denn sie geben ihm Orientierung und einen Rahmen, innerhalb dessen es sich gut, sicher und frei entwickeln kann. Dies soll keinesfalls als Plädoyer dafür missverstanden werden, Kinder bewusst oder häufig zu frustrieren, um sie etwa „abzuhärten“. Es soll jedoch ein Plädoyer dafür sein, Kindern Rückhalt zu geben und sie zugleich vorsichtig an die Herausforderungen des Lebens heranzuführen. Denn nur so ermöglichen wir es ihnen, mit unserer Unterstützung Situationen zu bewältigen, die ihnen immer wieder begegnen werden.

    Grenzen setzen – eine Sache der Übung

    Nun drängt sich an diesem Punkt die Frage auf: Wenn Grenzen und die damit verbundenen Frustrationserfahrungen so wertvoll und wichtig für die kindliche Entwicklung sind, was treibt uns als Eltern dann an, sie unter Aufbringung größter Anstrengung zu vermeiden? Das ist schnell erklärt: Wir alle haben eine sehr klare Vorstellung davon, was den so genannten Good Cop vom Bad Cop unterscheidet. Und natürlich wollen wir für unser Kind stets lieber der Good Cop sein.

    The Good Cop

    Als Eltern liegt uns viel daran, unser Kind zu beschützen und ihm ein sorgenfreies Aufwachsen zu ermöglichen. Am liebsten würden wir ihm die Herausforderungen des Lebens gar nicht erst zumuten (müssen). Dem zugrunde liegt unser eigener, kindlicher Wunsch nach einem Leben ohne Frustrationen. Auch wir würden uns manchmal nach jemandem sehnen, der*die die Sorgen des Alltags für uns abfängt. Jemand, der*die unsere Probleme löst und alles daransetzt, dass es uns rundherum gut geht. Und so versuchen wir – nach bestem Wissen und Gewissen – dieses Ideal für unsere Kinder zu verwirklichen.

    The Bad Cop

    Zugleich sind die Frustrationen unserer Kinder für uns Eltern schwer auszuhalten. Ganz besonders, wenn wir selbst dafür verantwortlich sind! Niemand macht sein Kind gerne unglücklich, niemand sieht es gerne weinen, niemand möchte freiwillig der Bad Cop sein. Wir alle würden unserem Kind am liebsten Tag für Tag die Sterne vom Himmel holen. Ein striktes „Nein“ auszuhalten ist dabei für uns Eltern oft weitaus schwieriger als für unser Kind. Im Aushalten der kindlichen Reaktion darauf spiegelt sich häufig auch unser eigener Umgang mit Frustrationen wider.

    Warum der Bad Cop eigentlich der Good Cop ist

    Als Eltern ist es wichtig für uns zu lernen, dass wir unser Kind nicht vor den Herausforderungen des Lebens bewahren können. Und wir lernen, dass wir nur allzu oft selbst zu einer solchen Herausforderung für unser Kind werden. Dieses Gefühl auszuhalten ist ein Prozess, der Zeit benötigt. Doch er lohnt sich! Denn nur, wenn wir in der Lage sind, in diese Rolle hineinzuwachsen und sie auch auszuhalten, können wir liebevolle Lehrmeister*innen und Unterstützer*innen für unser Kind sein und es bestmöglich auf das Leben vorbereiten.

    Ein sicherer Hafen in kalten Gewässern

    Eine wesentliche Aufgabe in unserer Arbeit mit Eltern ist es, ihnen die Angst zu nehmen: Angst, sie könnten ihr Kind durch Frustrationen in seiner Entwicklung beeinträchtigen oder es gar traumatisieren. Dabei zeigen wir stets auf, dass spätere Frustrationserfahrungen, die aufgrund mangelnder Verfügbarkeit von Strategien nicht bewältigt werden können, ein weitaus größeres Risiko für eine gesunde (Weiter-)Entwicklung darstellen.

    Die liebevolle Begleitung des Kindes hingegen ermöglicht es ihm, einen konstruktiven Umgang mit derartigen Situationen einzuüben. Es lernt, sich nicht aus der Bahn werfen zu lassen und entwickelt ein gewisses Durchhaltevermögen, aber auch die nötige Flexibilität für einen manchmal unumgänglichen Richtungswechsel. Wie wir unsere Kinder – und dabei letztlich auch uns selbst – stärken können, um gemeinsam zu wachsen, zu lernen und ein erfüllendes Miteinander zu genießen, zeigen wir Ihnen in unserem nächsten Artikel!

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    Buchtipps & Quellen

    William & Martha Sears
    Das Attachment Parenting Buch
    (2016)

    Arnold Lohaus & Marc Vierhaus
    Entwicklungspsychologie des
    Kindes- und Jugendalters
    (2019)

    Martina Leibovici-Mühlberger
    Wenn die Tyrannenkinder
    erwachsen werden
    (2016)

    Haim Omer & Philip Streit
    Neue Autorität: Das
    Geheimnis starker Eltern
    (2019)

    Jesper Juul
    Nein aus Liebe
    (2008)